Ungarns Theater am Scheideweg
Seit dem Regierungsantritt der Regierung Orban gibt es in der Kulturlandschaft Ungarns gravierende Einschnitte. Die Regierung hat viele Theaterdirektoren aus dem Amt gedrängt und eigene Parteigänger berufen. Die Kulturlandschaft ist heute tief gespalten - in eine Gefolgschaft der rechtskonservativen Fidesz-Regentschaft und eine freie Szene, die die politische Vereinnahmung von Kunst anprangert, von ideologischer Gleichschaltung spricht. Die Folge: Immer mehr regierungskritische Künstler verlassen Ungarn. Auf diese Weise ist der Riss, der sich inzwischen durch die gesamte ungarische Kulturlandschaft zieht, zu einem tiefen Graben geworden. So tief, dass ein Dialog zwischen den Beteiligten kaum mehr möglich erscheint. Zum ersten Mal seit den politischen Veränderungen in Ungarn trafen sich deshalb auf Initiative der Heinrich-Böll-Stiftung und des Berliner Vereins mindpirates ungarische Theatermacher von beiden Seiten auf „neutralem Terrain" in Berlin, um den miteinander zu diskutieren, ob und wie dieser Graben vielleicht doch noch zu überbrücken ist. Vor allem aber haben die ungarischen Theatermacher darüber diskutiert, welche Rolle das Theater in Zukunft in Ungarn kultur- und identitätspolitisch spielen soll. Ein Beitrag von Maximilian Grosser über die Veranstalltung: Whatever happend to the HUngarian theatre?
Nein, das hätte in Ungarn keiner für möglich gehalten: Dass sich einmal der Intendant des ungarischen Nationaltheaters mit Vertretern der freien Budapester Theaterszene an einen Tisch setzt und über Theater austauscht. Denn der als regierungsnah geltende Nationaltheaterintendant Attila Vidnyászky hält nicht viel von alternativen Theaterprojekten.
Die freien Theater bestehen zu 99% aus Theatern die zwangsweise als freie Theater existieren. Das sind Theater mit einer totlangweiligen Ästhetik, deswegen sind sie freie Theater, die in diesem Zuge auch politisch werden. Die sogenannte freie Szene ist weder frei noch unabhängig, noch alternativ. Unabhängig sind sie nicht, weil sie von Subventionen des Staates leben und alternativ sind sie auch nicht, weil sie aus theaterästhetischen Gründen nichts innovatives anbieten.
Und so garantierte das Treffen nicht nur eine hitzige Debatte, sondern auch eine kleine Premiere in zweifacher Hinsicht. Denn neben der ersten öffentlichen Diskussion zwischen Àrpád Schilling von der freien Theaterstiftung Kretakör, György Szabó vom alternativen Kunsthaus Trafó und dem Nationaltheaterintendanten, konnte Attila Vidnyánszky erstmals überhaupt sein Konzept eines sakralen Theaters außerhalb Ungarns präsentieren.
Der kritische Geist als solcher fährt in keine meiner Inszenierungen. Mein Theater ist ein suchendes, ein forschendes Theater. Die Schlüsselfragen, mit denen ich mich beschäftige, sind die Position der Gemeinschaft in Europa, der Position der Nation in Europa, der Position der Jugend in Europa. Dafür ist das Nationaltheater da. Theater muss die Gemeinschaft stärken, den Glauben der Menschen stärken, ihre Existenz im alltäglichen Leben. Mein Ideal ist ein erbauendes Theater.
Doch Vidnyászkis Idee der zukünftigen Rolle des ungarischen Nationaltheaters wirkte auf die Berliner Zuhörer befremdlich – vor allem als er sie anhand seiner aktuellen Produktion des dramatischen Oratoriums „Johanna auf den Scheiterhaufen“ beschrieb. Das Werk von Paul Claudel und Arthur Honegger dient im als eine Huldigung von religiösem Glauben, Patriotismus und Aufopferungsbereitschaft und liefert gleichzeitig bizarre Kritik an Europas Politikern, deren Gesichter auf Fahndungsplakaten gezeigt werden. Einen Eindruck dieser Aufführung schilderte auf dem Podium die Regensburger Schauspieldirektorin Stephanie Junge.
Ich habe da gesessen und mich überwältigt gefühlt. Es ist jetzt aber eine Sache, die meinen persönlichen Theaterbegriff prägt, dass ich sagen kann, dass mir die Schauspieler zu fern geblieben sind. Die gehen auf in so einer Gesamtidee, der spiritus rector ist der Regisseur. Für mich ist das eine starke Form von Repräsentationskultur. Trotzdem ist es eine ganz monumentale Veranstaltung, es sind nie weniger als 130 Personen auf der Bühne gleichzeitig.
Eine Theaterästhetik, die das Nationaltheater zu einer Art Kathedrale des ungarischen Nationalstolzes umwidmen will, widerspricht der Idee eines Theaters der Bürger, wie es Àrpád Schilling in Berlin präsentierte, widerspricht. Mit der von im geleiteten Stiftung Kretakör, zu deutsch Kreidekreis, organisiert er Theater als Ereignis und will auf diese Weise ziviles Bewusstsein und demokratisches Handeln fördern. Zuletzt feierten die Macher von Kretakör große Erfolge mit Martón Gulyás‘ Stück „Korrupció“. Àrpád Schilling.
Dieses Stück handelt davon, wie eine politische Gruppierung den Staat praktisch gefangen hält. Wir beschreiben präzise wie Investitionen laufen und zeigen wie die staatlichen Mittel zu den politischen Entscheidungsträgern zurückfließen. Man sieht bei uns, wie die politischen und wirtschaftlichen Eliten ein kleines Reich aufbauen. Das führt dazu, dass wir uns irgendwo zwischen dem Russland Putins und dem Italien von Berlusconi befinden, auch weil keine der Parteien von der Korruption unberührt ist.
Gezielt setzen Àrpád Schilling und Kretakör auf solch brenzlige Gesellschaftsthemen, um das Publikum anzustacheln, darüber zu diskutieren. Ähnlich agiert György Szabó, der mit dem alternativen Kunsthaus Trafó für Theater und Tanz eine Art Institution des politischen Dialogs etablieren will. Vergleichbar mit dem Berliner Theater Hebbel am Ufer will er das mit der Einladung ausländischer Produktionen erreichen. Seine Erfahrung: noch ist die ungarische Gesellschaft nicht bereit, alte Wunden und Traumata der kommunistischen Ära, die heute fortwirken, zu verarbeiten.
Vor zwei Monaten haben wir ein Stück von Lola Arias über die Pinochet-Ära aufgeführt. Es geht in diesem Stück darum, wie die erwachsenen Kinder ihre Eltern nach der Rolle im Pinochet-Regime spielen. Wir haben nach der Aufführung die Frage in einer Diskussion umgedreht und haben das Budapester Publikum gefragt: Wie seid ihr mit eurer Geschichte umgegangen? Darauf folgte ein peinliches Schweigen.
Doch der Erfolg solcher Dialoge mit dem Publikum scheinen in Ungarns freier Theaterszene nicht nur durch dessen Zurückhaltung gefährdet. Je weiter die Diskussion am heutigen Nachmittag voran schritt, umso stärker zeigte sich der Graben, der zwischen etablierten Theatern und der freien Szene verläuft. Spätestens da, als Àrpád Schilling nach einem hitzigen Streit dem Nationaltheaterintendanten Vidnyánszki entlocken konnte, dass doch politischer Einfluss über Gelder für freie Theater entscheidet. Ein bittereres Ende der Debatte, die Àrpád Schilling und György Szabó nur mit dem Verlangen nach mehr Transparenz bei den ungarischen Kulturbehörden abschließen konnten.
Produziert für Deutschlanfunk Kultur Fazit 8.12.2013